#29 Ist Gott selbst fluide? – Prozesstheologie und Ereignisdenken

Was bedeutet die Frage nach der Verflüssigung von Kirche in Bezug auf Gott? Wandelt sich Gott im Laufe der Zeit? Ist der Faktor Zeit also im innersten Wesen Gottes vorhanden? Mit dieser Episode bewegen wir uns in Bezug auf Fluidität an die äußerste theologische Grenze. Nach einer kurzen Einführung in Prozesstheologie und Ereignisdenken wird die Frage beantwortet, was an Gott stabil und was veränderlich ist.

#28 Kathedrale in der Zeit – Abraham Joshua Heschel zur Bedeutung des Sabbats 

Eine Lesereise durch das Buch „Der Sabbat“ von Abraham J. Heschel, 2022, Jüdische Verlagsanstalt Berlin GbR und Patmos Verlag.

Susannah Heschel schreibt in der Einführung, Seite 19:

„Mein Vater definiert das Judentum als eine Religion, deren zentraler Bezugspunkt die Heiligkeit der Zeit ist. Einige Religionen erbauen große Kathedralen oder Tempel, aber das Judentum erbaut den Sabbat, als eine Architektur der Zeit. Heiligkeit in der Zeit zu erschaffen, erfordert eine andere Empfindung, als eine Kathedrale im Raum zu errichten.“

#27 Zweite Zwischenbilanz | Ernüchternde Denkwege und notwendige Folgerungen

Seit dem Neueinstieg nach der Podcast-Pause sind bereits elf neue Folgen online gegangen. Das ist der richtige Zeitpunkt für eine weitere Zwischenbilanz. Am Anfang habe ich nicht geahnt, wie tief uns das Thema „Fluide Kirche“ in die innerste Steuerungslogik von „Kirche“ führen wird. Und wie sich daran nachzeichnen lässt, welche Verschiebungen in Theologie und Kirchenverständnis stattgefunden haben. Das Ganze beinhaltet nicht nur nüchterne Beobachtungen, sondern ebenfalls verstörende Ernüchterungen. In sieben Schritten zeichne ich meinen emotionalen Denkweg nach:

  1. Der Ausgangspunkt
  2. Der Rückbezug
  3. Der gemeindliche Kontext
  4. Die Vorrangstellung von Zeit vor dem Raum
  5. Zeitverständnisse und die Ausübung von Macht
  6. Dominanz durch Verdrehung der Botschaft
  7. Herausforderungen

#26 Digitale Verflüssigungen | Von leichten Abschieden und neuen Gewohnheiten

Was bedeutet das Erleben von „Beschleunigung“ und „Vernetzung“ praktisch? Anhand von sechs kleinen Zeitreisen wird die rasante Entwicklung, in der wir leben, nachgezeichnet. Mit dieser Entwicklung gehen Verschiebungen im kommunikativen Verhalten und der Wahrnehmung von Wirklichkeit einher. Das, was früher undenkbar war, ist heute normal. Auf diese neue Normalität muss Kirche mit ihrer Struktur und Theologie reagieren, um verständlich und anschlussfähig zu sein.

1) Telekommunikation
2) Soziale Netzwerke
3) Text- und Bildverarbeitung
4) Datenträger
5) Wissensorganisation
6) Website-Entwicklungen und neue Sehgewohnheiten

Fünf Verschiebungen
1) Von linearen Zeichenfolgen zu bewegten Bildern
2) Von statischen Datenklumpen zu Ereignis-Strömen
3) Von großen Zusammenhängen zu flüchtigen Intensiv-Ereignissen
4) Von einem externen Vorne zu dynamisch-vernetzten Mitten
5) Von komplexen Inhalten zu Informationshäppchen

Quellen:

#25 Ereignisbasierte Gesellschaft oder: Wenn aus „der Geschichte“ viele Geschichten werden

In dieser Episode kommen wir auf die drei Zeitmuster von Michael Schüßler „Ewigkeit, Geschichte, Ereignis“ zurück. Speziell geht es um die Verschiebung ins Ereignis-Dispositiv. Im Verlauf der letzten Jahrzehnte hat sich das Verständnis von der einen großen Geschichte abgeschwächt. Stattdessen nimmt unser Bewusstsein in unserer medialen Kultur Zeit eher fragmentarisch, bildhaft und punktuell wahr. Es ist die Verschiebung von einem linear-kontinuierlichen Zeitfluss hin zu einem ereignisbasierten Erleben einer Netzwerkgesellschaft.

Verwendete Zitate:

„Die Geburtsstunde der Moderne, so lässt sich mit einiger Plausibilität argumentieren, war die Emanzipation der Zeit vom Raum, die am Beginn des Beschleunigungsprozesses steht: Durch die Einführung der mechanischen Uhr und später der standardisierten Zeit emanzipiert sich diese gegenüber dem Ort…“
Rosa, Hartmut: Beschleunigung – die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Berlin 2005, S. 61f.

„Was verloren geht, sind die gleichsam „metazeitlichen“ Geschichts- Lebens- und Stundenpläne, welche über die zeitlichen Qualitäten von Ereignissen und Handlungen im Vornhinein bestimmen und Alltags-, Lebens- und Geschichtszeit damit planbar machen und als gerichtet erscheinen lassen.“
Rosa, Hartmut: Beschleunigung – die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Berlin 2005, S. 450.

Armin Nassehi zitiert von Michael Schüßler:
„Tatsächlich ist die Zeit heute unintergehbar plural, so dass zum Problem wird, „wie eine Gesellschaft mit der Gleichzeitigkeit von Verschiedenem umgeht und wie sachlich unterschiedliche Ereignisreihen synchronisiert werden.“
Nassehi, Armin: Die Zeit der Gesellschaft – Auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie der Zeit, Wiesbaden 2008, S. 257.
Schüßler, Michael: Mit Gott neu beginnen – Die Zeitdimension von Theologie und Kirche in ereignisbasierter Gesellschaft, Stuttgart 2013, Fußnote 88.

„Aus dem geordneten Verlauf des Kosmos ist die ereignisbasierte Drift einer Netzwerkgesellschaft geworden.“
Schüßler, Michael: Mit Gott neu beginnen – Die Zeitdimension von Theologie und Kirche in ereignisbasierter Gesellschaft, Stuttgart 2013, S. 204, Pos. 2977.

#24 Messianische Zeiterfahrung oder: Von Endzeit, Neuzeit und der Kunst, beständig „im Anfang“ zu leben

Seit einiger Zeit haben apokalyptische Untergangsszenarien wieder Hochkonjunktur. Allerdings sollte das Apokalyptische nicht mit dem Messianischen verwechselt werden. Messianische Zeit hat eine eigene Struktur. Wenn wir Kirche als messianische Gemeinschaft in der Zeit verstehen, ist es wichtig, sich mit den Merkmalen der messianischen Zeit zu befassen.

Messianische Zeit…

  1. ist ganz nah und zugleich flüchtig.
  2. ist von Dringlichkeit gekennzeichnet.
  3. bringt Leben zur Erfüllung.
  4. bedeutet eine immer neue Unterbrechung.
  5. hat eine winzig-kleine Struktur.
  6. erscheint als endlose Dehnung.
  7. beinhaltet aktivierende Energie.

Quellen:

„Wollte man den Unterschied vom Messianischen und Apokalyptischen auf eine Formel bringen, könnte man sagen, dass das Messianische nicht das Ende der Zeit, sondern die Zeit des Endes ist. Nicht das Ende der Zeit ist messianisch, sondern die Beziehung, in der jeder Augenblick, jeder kairos mit dem Ende der Zeit und der Ewigkeit steht. Paulus interessiert sich nicht für den letzten Tag, für den Moment, in dem die Zeit zu Ende geht, sondern für die Zeit, die sich zusammenzieht und zu enden beginnt. Oder, wenn Sie so wollen, für die Zeit, die zwischen der Zeit und ihrem Ende bleibt.“
Agamben, Giorgio: Kirche und Reich, Leipzig 2012, S. 14.

„Denn die Zeit des Messias bezeichnet keine zeitliche Dauer, sondern eine qualitative Transformation der gelebten Zeit. In dieser Zeit ist so etwas wie eine Verspätung, in dem Sinne, indem man davon sprechen kann, dass ein Zug Verspätung hat, schlechterdings nicht möglich. Die Erfahrung der messianischen Zeit verbietet es nicht nur, sich dauerhaft in ihr einzurichten, es kann in ihr auch keine Verspätung, keinen Aufschub geben.“
Agamben, Giorgio: Kirche und Reich, Leipzig 2012, S. 11.12

„Die Macht des Ursprungs und die Wurzelung im Raum zerbricht in Israel. So kann Israel zu einem „Volk ohne Raum“ werden, ohne unterzugehen, denn es weiß sich als „Volk der Zeit“, welches der Wurzelung im Raum entrissen ist.“ 
Taubes, Jacob: Abendländische Eschatologie, München 1991, S.12.

„Zeit heißt Frist. Wer christlich zu denken glaubt und dies ohne Frist zu denken glaubt, ist schwachsinnig.“
Taubes, Jacob: Abendländische Eschatologie, München 1991, Klappentext

„Denn in ihr war jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte.“ 
Benjamin, Walter: Geschichtsphilosophische Thesen. Anhang B. In: Gesammelte Schriften. Frankfurt am Main, 1980, S. 676.

Der Messias wird kommen, sobald man ihn nicht mehr erwartet, er wird kommen, sobald er nicht mehr nötig ist; er wird kommen, auf einem Tag, den man nicht kennt, an einem Ort, den man nicht sieht, er wird kommen, wie dein Tod, dessen Datum auch niemand kennt. Aber er wird kommen, und wenn er in den Raum tritt, dann wird er mit einem ganz kleinen Schritt über die Schwelle treten, er wird so klein sein, dass man ihn vielleicht gar nicht sieht oder nicht achtet. Der Mann, der den Ankömmling auslacht, der keine Achtung vor seinem kleinen Schritt hat, wird sterben.“
Kafka, Franz: Der Prozeß, Kapitel 9. 

„Während unsere Darstellung der chronologischen Zeit als derjenigen Zeit, in der wir sind, uns von uns trennt und uns sozusagen in ohnmächtige Zuschauer unserer selbst verwandelt, die ohne Zeit die flüchtige Zeit betrachten, ist die messianische Zeit als operative Zeit, in der wir unsere Zeitdarstellung ergreifen und vollenden, die Zeit die wir selber sind – und daher die einzig reale Zeit, die einzige Zeit, die wir haben.“
Agamben, Giorgio: Die Zeit, die bleibt, Frankfurt am Main, S. 81.

#23 Die Macht des Mythos – oder: Warum Kirche nicht im Ursprung gefangen bleiben darf

Auch wenn in der Neuzeit das mittelalterliche Ewigkeitsdispositiv an Deutungsmacht verloren hat, finden sich in den christlichen Geschichtsdeutungen immer noch der Rückbezug zum normativen Ursprung. Selbst wenn von Heilsgeschichte gesprochen wird, kann damit eine Restauration des Anfangs gemeint sein. Es ist wichtig, sich diese Strukturmuster klarzumachen, um dem Sinn der christlichen Botschaft und der Gestalt einer „messianischen Gemeinschaft in der Zeit“ auf die Spur zu kommen.

Quellen:

„Der Ursprung enthält in sich das Gesetz des Kreislaufs: Was von ihm kommt, muss zu ihm zurück. Wo der Ursprung herrscht, kann es das Neue nicht geben. Die Herrschaft des Woher macht die Ernsthaftigkeit des Wozu unmöglich. … Das bedeutet aber, dass hier überall die Zeit unter der Herrschaft des Raumes steht. In der Zeit, die als Kreislauf oder als Kreis von Kreisen angeschaut wird, ist die Zeit nicht zu ihrem Wesen, ihrer eigentlichen Macht gekommen. Denn es ist ihre Macht, vorwärts zu gehen, unumkehrbar, auf das Neue, das Wozu.“
in: Tillich, Paul: Die sozialistische Entscheidung, Berlin 1980, S. 26.

„In dem Widerspruch des Propheten gegen den Priester drückt sich die Brechung des Ursprungsmythos in letzter Instanz aus. Positiv bedeutet das die Erfassung der Zeit in ihrer wesenhaften Selbstständigkeit und die Erhebung der Zeit über den Raum. Die Zeit bekommt eine Richtung; sie geht auf etwas zu, das nicht war, sondern das sein wird und das, wenn es erreicht ist, nicht wieder verloren geht.“
in: Tillich, Paul: Die sozialistische Entscheidung, Berlin 1980, S. 29.

Zitat von Jean Jaurès:
„Herr Barrès fordert uns öfter auf, in die Vergangenheit zurückzugehen; für die, die nicht mehr sind und die, die zur Unbeweglichkeit erstarrt, gleichsam heilig geworden sind, hegt er eine Art pietätvolle Verehrung. Nun, meine Herren, auch wir verehren die Vergangenheit. Aber man ehrt und achtet sie nicht wirklich, indem man sich zu den verloschenen Jahrhunderten zurückwendet und eine lange Kette von Phantomen betrachtet: die richtige Art, die Vergangenheit zu betrachten, ist, das Werk der lebendigen Kräfte, die in der Vergangenheit gewirkt haben, in die Zukunft weiterzuführen.“
Zitiert nach: https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/reflexionen/geschichten/897102-Irrwege-einer-Metapher.html, abgerufen am 29.05.2023.

Gegenüberstellung einer raum- und zeitorientierten Geschichtsdeutung:
Tillich, Paul: Der Widerstreit von Raum und Zeit, Gesammelte Werke VI, S. 109 – 120.

#22 Die Entdeckung der Zukunft – oder: Der schwere Abschied von der Ewigkeit

Mit der Verschiebung von einem an der Ewigkeit zu einem an der Geschichte orientierten Zeitverständnis kommt die bisherige Form von Kirche enorm unter Druck. Die gestaltbare Zukunft findet Eingang in die diesseitige Welt. Menschen werden zu Akteuren und Gestalter:innen von Gottes neuer Friedenswelt. Hierarchien werden nicht mehr als gottgegeben und unhinterfragbar hingenommen. Biblische Texte werden historisch untersucht. Gott ist nicht mehr „über mir“, sondern „vor mir“. Parallel dazu gibt es Bestrebungen, zurück zum Ursprung zu gehen und diesen als Referenzpunkt für weitere Entwicklungen zu verwenden. All dieses ist der Nährboden für Reformen und Revolutionen.

Quellen:

  • Halík, Tomáš: Wege einer neuen Evangelisierung?, in: Ruhstorfer, Karlheinz (Hg.): Das Ewige im Fluss der Zeit – Der Gott, den wir brauchen, Freiburg im Breisgau 2016, S. 221.
  • Hölscher, Lucian: Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt a.M. 1999, S. 10 und 37.
  • Löwith, Karl: Weltgeschichte und Heilsgeschehen – Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Heidelberg 2004.
  • Rahner, Karl: Unveränderlichkeit und Wandel im Glaubensverständnis in der Zeit des Konzils. In: Ders.; Semmelroth, Otto (Hrsg.): Theologische Akademie, Bd. 1, Frankfurt 1965, S. 96.
  • Schüßler, Michael: Mit Gott neu beginnen – Die Zeitdimension von Theologie und Kirche in ereignisbasierter Gesellschaft, Stuttgart 2013, S. 102.

#21 Ewigkeit mitten in der Zeit – oder: Warum der Begriff Unendlichkeit in die falsche Richtung weist

Das raumorientierte, eher statisch gedachte Kirchenverständnis liegt zu weiten Teilen im griechischen Begriff von „Ewigkeit“ begründet. Häufig wird Ewigkeit dabei mit Unendlichkeit gleich gesetzt. Das ist aber irreführend. Nach althebräischem Verständnis geht es bei dem, was im Deutschen mit „Ewigkeit“ übersetzt wird, eher um eine Intensivierung von Zeit. Je mehr wir uns auf das biblisch-hebräische Verständnis einlassen, desto weniger können wir Kirche als vorrangig raumorientierte Gemeinschaft denken. Wenn also die Teilhabe an der göttlichen Welt eine Erfahrung höchster Vitalität und Dynamik ist, wie ließe sich diese lebensbejahende Erfahrung bereits jetzt in christlichen Gemeinschaften abbilden?

Quellen:

  • Boman, Thorleif: Das hebräische Denken im Vergleich mit dem griechischen, Göttingen, 5. Auflage 1968, S. 104-133. | Zitate von Seite 108 und 131.
  • Moltmann, Jürgen: Die ersten Freigelassenen der Schöpfung – Versuche über die Freude an der Freiheit und das Wohlgefallen am Spiel, München 1971.

#20 Das Zeitempfinden im Mittelalter – oder: Leben in einer zielgerichteten Sakralzeit

Um das Besondere des heutigen Zeitverständnisses besser zu verstehen, ist es hilfreich, sich als Kontrast in das mittelalterliche Zeitempfinden hineinzuversetzen. Mit der Ausbreitung des Christentums in Europa wurde die Agrar-Zeit in eine Sakral-Zeit eingebettet. Damit wurde die zyklische Geschichtserfahrung auf ein Ziel hin ausgerichtet. Durch Einflüsse der griechischen Philosophie und dem damit verbundenen Verständnis von Ewigkeit wurde das Wahrheits-, Glaubens- und Kirchenverständnis immer mehr verräumlicht. Zeit war eine Kategorie, die allein in die vergängliche Welt der Menschen gehörte. Diese Ansichten wirken bis heute nach und verhindern ein dynamischeres Verständnis von Kirche.

Quellen:

  • Hohn, Hans-Willy: Zyklizität und Heilsgeschichte, in: Zoll, Rainer (Hg.): Zerstörung und Wiederaneignung von Zeit, Frankfurt a.M. 1988, S.120-142.
  • Hölscher, Lucian: Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt a.M. 1999.
  • Gloy, Karen: Philosophiegeschichte der Zeit, Stuttgart 2008.
  • Zum Begriff der „Zielgeschichte“ siehe: Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, Kapitel 33-42, Frankfurt a.M. 1985, S. 1000.