#23 Die Macht des Mythos – oder: Warum Kirche nicht im Ursprung gefangen bleiben darf

Auch wenn in der Neuzeit das mittelalterliche Ewigkeitsdispositiv an Deutungsmacht verloren hat, finden sich in den christlichen Geschichtsdeutungen immer noch der Rückbezug zum normativen Ursprung. Selbst wenn von Heilsgeschichte gesprochen wird, kann damit eine Restauration des Anfangs gemeint sein. Es ist wichtig, sich diese Strukturmuster klarzumachen, um dem Sinn der christlichen Botschaft und der Gestalt einer „messianischen Gemeinschaft in der Zeit“ auf die Spur zu kommen.

Quellen:

„Der Ursprung enthält in sich das Gesetz des Kreislaufs: Was von ihm kommt, muss zu ihm zurück. Wo der Ursprung herrscht, kann es das Neue nicht geben. Die Herrschaft des Woher macht die Ernsthaftigkeit des Wozu unmöglich. … Das bedeutet aber, dass hier überall die Zeit unter der Herrschaft des Raumes steht. In der Zeit, die als Kreislauf oder als Kreis von Kreisen angeschaut wird, ist die Zeit nicht zu ihrem Wesen, ihrer eigentlichen Macht gekommen. Denn es ist ihre Macht, vorwärts zu gehen, unumkehrbar, auf das Neue, das Wozu.“
in: Tillich, Paul: Die sozialistische Entscheidung, Berlin 1980, S. 26.

„In dem Widerspruch des Propheten gegen den Priester drückt sich die Brechung des Ursprungsmythos in letzter Instanz aus. Positiv bedeutet das die Erfassung der Zeit in ihrer wesenhaften Selbstständigkeit und die Erhebung der Zeit über den Raum. Die Zeit bekommt eine Richtung; sie geht auf etwas zu, das nicht war, sondern das sein wird und das, wenn es erreicht ist, nicht wieder verloren geht.“
in: Tillich, Paul: Die sozialistische Entscheidung, Berlin 1980, S. 29.

Zitat von Jean Jaurès:
„Herr Barrès fordert uns öfter auf, in die Vergangenheit zurückzugehen; für die, die nicht mehr sind und die, die zur Unbeweglichkeit erstarrt, gleichsam heilig geworden sind, hegt er eine Art pietätvolle Verehrung. Nun, meine Herren, auch wir verehren die Vergangenheit. Aber man ehrt und achtet sie nicht wirklich, indem man sich zu den verloschenen Jahrhunderten zurückwendet und eine lange Kette von Phantomen betrachtet: die richtige Art, die Vergangenheit zu betrachten, ist, das Werk der lebendigen Kräfte, die in der Vergangenheit gewirkt haben, in die Zukunft weiterzuführen.“
Zitiert nach: https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/reflexionen/geschichten/897102-Irrwege-einer-Metapher.html, abgerufen am 29.05.2023.

Gegenüberstellung einer raum- und zeitorientierten Geschichtsdeutung:
Tillich, Paul: Der Widerstreit von Raum und Zeit, Gesammelte Werke VI, S. 109 – 120.

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