Seit dem Neueinstieg nach der Podcast-Pause sind bereits elf neue Folgen online gegangen. Das ist der richtige Zeitpunkt für eine weitere Zwischenbilanz. Am Anfang habe ich nicht geahnt, wie tief uns das Thema „Fluide Kirche“ in die innerste Steuerungslogik von „Kirche“ führen wird. Und wie sich daran nachzeichnen lässt, welche Verschiebungen in Theologie und Kirchenverständnis stattgefunden haben. Das Ganze beinhaltet nicht nur nüchterne Beobachtungen, sondern ebenfalls verstörende Ernüchterungen. In sieben Schritten zeichne ich meinen emotionalen Denkweg nach:
- Der Ausgangspunkt
- Der Rückbezug
- Der gemeindliche Kontext
- Die Vorrangstellung von Zeit vor dem Raum
- Zeitverständnisse und die Ausübung von Macht
- Dominanz durch Verdrehung der Botschaft
- Herausforderungen
Hallo Jens,
vielen Dank für deine Anregungen zu einer Kirchengemeinschaft in Bewegung. Uns beschäftigt unabhängig des fluiden Hintergrundes dieses Thema schon seit Anfang der Gründung (daher auch der Name). Zwei Reaktionen auf deine Thesen:
A) Der Kontrast zwischen hebräischen Zeitdenken und Ägyptischen oder Babylonischem Raumdenken in Tempelform finde ich zwar interessant, aber nicht ganz konsistent. Auch das Hebräische hatte schon früh einen Fokus auf einen Ort (Stiftshütte – auch wenn diese in Bewegung war, war sie doch ein Fixpunkt, der Halt gab) und später auf den Tempel, der sogar einen sehr starken Ortsbezug mit Alleinstellung hatte. Später dann, als es zur Entwicklung von Synagogen kam, war wieder der Ort eines Raumes Bezugs- und Orientierungspunkt für die Gemeinschaft. Mir scheint hier dein angesprochenes Grundbedürfnis von uns Menschen einen starken Einfluss haben. In diese Synagogenstruktur entwickelte sich meines Verständnisses nach die erste Kirche hinein. Gottesdienste in festen Häusern wurden also nicht „erfunden“, sondern übernommen. Die Mobilität der frühen Kirche kam dann mehr aus der Not der Verfolgung als aus der Erkenntnis einer fluiden Struktur heraus, oder?
B) Du beschreibst bereits einige Praxiserfahrung mit dem Thema fluide Kirche. Wir hatten uns auch das erste Jahr in den verschiedensten Locations getroffen und dies als wenig Hilfreich in der Sichtbarwerdung und Ansprechbarkeit zu Menschen hin wahrgenommen. Große Freikirchen wie ICF übernehmen dann von Anfang an die „Sonntags-Anmiete-Strategie“ von Räumen, um flexibel im Wachstum zu sein. Auch wenn ich die Strategie verstehe und den Vorteil sehe: Es benötigt ein großes Team und sehr große Ressourcen, die für Material, Technik, Auf- und Abbau verwendet werden. Sehr kräftezehrend und ich hinterfrage, ob dies eine Art von Ressourcenverwendung ist, die im Kontext Kirche immer sinnvoll ist. Als kleines Team tut es uns gut nicht jeden Sonntag 4 Stunden in Auf- und Abbau zu investieren. Daher hier die Frage an dich: Was ist denn nun fluide Kirche in der Praxis? Geht es um Räume? Um Theologie? Um Verhalten und Handeln im und außerhalb des Gottesdienstes?
Hier fehlt mit die Umsetzung, um dieses Thema greifbar zu machen. Sonst bleibt es auf der Metaebene, was nett für einen Diskurs ist, aber keine Auswirkungen haben wird. Und du hast doch genau dazu viele Praxiserfahrung. Bitte beschreibe, wie ihr dieses Thema (und auf welchen Ebenen) lebt 🙂
Vielen Dank Dir und Grüße aus Deggendorf
Hallo Christoph,
vielen Dank für deine Fragen. Die Fragen sind sehr umfassend. Ich versuche mal, einzelne Gedankenspuren zu beschreiben.
Zu A) Althebräisches Denken
Ja, natürlich brauchen wir Fixpunkte im Raum. Aber diese Orte werden nie „heilig an sich“. Die Stiftshütte war ein „Zelt der Begegnung“ und sie gehörte zum mitgehenden Gott „Immanuel“. Der Bau des Tempels war dann schon ein Zugeständnis an das menschliche Bedürfnis, ähnlich wie das Königtum.
Spannend lässt sich beobachten, wie sich das Judentum nach der Zerstörung des Tempels entwickelte. Es entstand die Synagogenkultur. Das waren aber eher Versammlungshäuser, keine Tempel. Der zweite Tempel hat nie wieder eine solche Bedeutung wie der erste erhalten. Und seid 70 nChr gibt es gar keinen Tempel mehr. In den kirchlichen Bereich übertragen: Synagogen sind eher Gemeindehäuser, aber nicht heilige Kirchenräume. Sie dienen der Versammlung der Gemeinde. Der Ort wird durch die Menschen heilig und nicht die Menschen durch den Ort.
Im Herbsturlaub habe ich Abraham J Heschel gelesen. In „Der Sabbat“ beschreibt er ausgesprochen präzise, dass das Judentum sich nicht ortsgebunden, sondern zeitgebunden formiert. Ich werde darüber die nächste Podcast-Episode machen.
Und ja: Die Urgemeinde wurde mobil durch die Verfolgung. Das ist leider so. Denn leider sind die menschlichen Grundbedürfnisse so, dass Menschen häufig ist „Räumen“ Heimat suchen und nicht in der Beziehung zum lebendigen Gott. Ich sehe dieses Grundbedürfnis und stelle mich notgedrungen und manchmal zähneknirschend darauf ein. Es ist für mich aber nur so etwas wie ein Zugeständnis, aber keine biblische Leitspur.
Zu B) Nachteile und Praxis
Es gibt viele Nachteile, wenn eine Gemeinde kein eigenes Gebäude hat. Die mangelnde Sichtbarkeit ist ein wichtiger Punkt. Aber es gibt noch mehr Nachteile, wenn sie ein eigenes Gebäude hat. Im Vergleich zur Verwaltung eines eigenen Gebäudes ist es weniger Aufwand, am Sonntag auf- und abzubauen.
Wir haben in Bremen im CVJM-Haus, an dem wir sonntags sind, einen Lagerraum und ein kleines Büro. Alles ist in einer mobilen Logistik auf Rollcontainern. Der Aufbau inklusive Kaffee kochen dauert höchsten 1 1/2 Stunden. Die Gemeinde rotiert in sogenannten Soli-Diensten. Jeder kennt jeden Handgriff. Man ist ca. 1x in 3 Monaten dran. Das ist anstrengend, erhöht aber auf der anderen Seite die grundsätzliche Dienstbereitschaft. Hätten wir einen Hausmeister, entstünde ein Machtgefälle in Bezug auf die Personen mit dem dicksten Schlüsselbund.
So mobil und flexibel zu arbeiten, ist insbesondere in zwei Bereichen eine Herausforderung: Für die Technik und den Kinderbereich. Aber die Technik ist über die Jahre vom Gewicht immer leichter geworden. Es braucht kein schweres Mischpult und keine schweren Boxen mehr. Und das Material für den Kinderbereich ist in vielen Boxen geordnet. Aber es stimmt: Es ist in diesen Bereichen mühsamer, als hätte man feste Räume.
Beim Thema „Fluide“ geht es mir zunächst einmal um die innere Haltung. Äußerlich kann vieles gleich aussehen. Aber zB die Funktion des Gottesdienstes am Sonntag ändert sich. Der Gottesdienst ist dann keine zentrierende, raumorientierte, identitätsstiftende Mitte, sondern ein Zwischenstopp auf einem Weg. Durch diese andere Denke werden keine überhöhten Erwartungen an den Gottesdienst gestellt und man ist flexibler in der Form. Und aus dieser inneren Haltung heraus wird es dann viel leichter, offener gegenüber Veränderungen zu sein. Auch das Leitungsverständnis verändert sich damit. Dazu ließe sich noch vieles sagen. Ich hoffe, die wenigen Notizen und Andeutungen helfen.
Grüße von Jens