#24 Messianische Zeiterfahrung oder: Von Endzeit, Neuzeit und der Kunst, beständig „im Anfang“ zu leben

Seit einiger Zeit haben apokalyptische Untergangsszenarien wieder Hochkonjunktur. Allerdings sollte das Apokalyptische nicht mit dem Messianischen verwechselt werden. Messianische Zeit hat eine eigene Struktur. Wenn wir Kirche als messianische Gemeinschaft in der Zeit verstehen, ist es wichtig, sich mit den Merkmalen der messianischen Zeit zu befassen.

Messianische Zeit…

  1. ist ganz nah und zugleich flüchtig.
  2. ist von Dringlichkeit gekennzeichnet.
  3. bringt Leben zur Erfüllung.
  4. bedeutet eine immer neue Unterbrechung.
  5. hat eine winzig-kleine Struktur.
  6. erscheint als endlose Dehnung.
  7. beinhaltet aktivierende Energie.

Quellen:

„Wollte man den Unterschied vom Messianischen und Apokalyptischen auf eine Formel bringen, könnte man sagen, dass das Messianische nicht das Ende der Zeit, sondern die Zeit des Endes ist. Nicht das Ende der Zeit ist messianisch, sondern die Beziehung, in der jeder Augenblick, jeder kairos mit dem Ende der Zeit und der Ewigkeit steht. Paulus interessiert sich nicht für den letzten Tag, für den Moment, in dem die Zeit zu Ende geht, sondern für die Zeit, die sich zusammenzieht und zu enden beginnt. Oder, wenn Sie so wollen, für die Zeit, die zwischen der Zeit und ihrem Ende bleibt.“
Agamben, Giorgio: Kirche und Reich, Leipzig 2012, S. 14.

„Denn die Zeit des Messias bezeichnet keine zeitliche Dauer, sondern eine qualitative Transformation der gelebten Zeit. In dieser Zeit ist so etwas wie eine Verspätung, in dem Sinne, indem man davon sprechen kann, dass ein Zug Verspätung hat, schlechterdings nicht möglich. Die Erfahrung der messianischen Zeit verbietet es nicht nur, sich dauerhaft in ihr einzurichten, es kann in ihr auch keine Verspätung, keinen Aufschub geben.“
Agamben, Giorgio: Kirche und Reich, Leipzig 2012, S. 11.12

„Die Macht des Ursprungs und die Wurzelung im Raum zerbricht in Israel. So kann Israel zu einem „Volk ohne Raum“ werden, ohne unterzugehen, denn es weiß sich als „Volk der Zeit“, welches der Wurzelung im Raum entrissen ist.“ 
Taubes, Jacob: Abendländische Eschatologie, München 1991, S.12.

„Zeit heißt Frist. Wer christlich zu denken glaubt und dies ohne Frist zu denken glaubt, ist schwachsinnig.“
Taubes, Jacob: Abendländische Eschatologie, München 1991, Klappentext

„Denn in ihr war jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte.“ 
Benjamin, Walter: Geschichtsphilosophische Thesen. Anhang B. In: Gesammelte Schriften. Frankfurt am Main, 1980, S. 676.

Der Messias wird kommen, sobald man ihn nicht mehr erwartet, er wird kommen, sobald er nicht mehr nötig ist; er wird kommen, auf einem Tag, den man nicht kennt, an einem Ort, den man nicht sieht, er wird kommen, wie dein Tod, dessen Datum auch niemand kennt. Aber er wird kommen, und wenn er in den Raum tritt, dann wird er mit einem ganz kleinen Schritt über die Schwelle treten, er wird so klein sein, dass man ihn vielleicht gar nicht sieht oder nicht achtet. Der Mann, der den Ankömmling auslacht, der keine Achtung vor seinem kleinen Schritt hat, wird sterben.“
Kafka, Franz: Der Prozeß, Kapitel 9. 

„Während unsere Darstellung der chronologischen Zeit als derjenigen Zeit, in der wir sind, uns von uns trennt und uns sozusagen in ohnmächtige Zuschauer unserer selbst verwandelt, die ohne Zeit die flüchtige Zeit betrachten, ist die messianische Zeit als operative Zeit, in der wir unsere Zeitdarstellung ergreifen und vollenden, die Zeit die wir selber sind – und daher die einzig reale Zeit, die einzige Zeit, die wir haben.“
Agamben, Giorgio: Die Zeit, die bleibt, Frankfurt am Main, S. 81.

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